Wunderschöne Berglandschaften, grauer, schroffer Fels hinter grünen Alpenwiesen – Die Erwartungen sind riesig, als wir an einem warmen Sommermittag in unseren ersten Zug nach Stuttgart steigen. Die letzten Stunden vor einer Großfahrt sind stressig. Die Verpflegung muss gekauft und das Material verteilt werden. Die Tickets müssen noch einmal gecheckt, die letzten Notkarten gedruckt werden. So mancher tut in der Nacht vor einer Großfahrt kein Auge zu. Sobald wir im Zug sitzen, verspüren wir alle eine große Erleichterung. Auf in den Süden, die Berge rufen! Am Abend steigen wir in den Nachtzug. Unser Kurswagen steht schon bereit und wir können uns in den Schlafabteilen einrichten. Die Einen wiegt das Rattern der Räder bald schon in den Schlaf, die Anderen können wieder kein Auge zutun und sehen in der Morgendämmerung die Berge am Fenster vorbeiziehen. In der italienischen Stadt Udine steigen wir aus, Busse bringen uns ab jetzt in die Berge zu dem kleinen Örtchen Forni di Sopra, das der Startpunkt unserer abenteuerlichen nächsten Tage werden soll. Die letzten Besorgungen sind gemacht, unsere Fahrtengruppe setzt sich langsam in Bewegung. Wir sind ein bunter Mix aus zwölf 13 bis 21 Jährigen Heliand-Pfadfindern, hauptsächlich aus Stamm I, auch IVer sind dabei. Die erste Etappe ist bekanntlich die schwerste, denn vor uns wartet ein steiler Aufstieg und ein Pass hoch über unseren Köpfen. Das Aufsteigen fällt besonders am ersten Tag schwer und so merken wir gegen Abend, das der Berg gesiegt hat und wir den finalen Aufstieg auf den nächsten Tag verschieben müssen. Erschöpft schlagen wir am Hang des Berges unser Lager auf, jeder von uns muss sich eine Kuhle im Gebüsch suchen, denn die Hanglage ist enorm. Morgens sehen wir dann unser Ziel in der Morgensonne. Grau und Wolkenverhangen thront der Pass über uns. In kleinen Etappen nähern wir uns ihm, der Bewuchs weicht bald Geröllfeldern und steilen Felswänden. Einen Weg gibt es nicht mehr, wir müssen von Markierung zu Markierung klettern. So schieben wir uns irgendwann langsam aufwärts. Das Tal ist unter uns in den Wolken verschwunden und die Felswände rechts und links neben uns werfen unsere Rufe zurück. Ansonsten ist es unheimlich still, man meint fast, gleich würden Trolle und Riesen auftauchen, die wir in ihren Bergbehausungen gestört haben. Oben angekommen, öffnet sich vor uns ein märchenhafter Blick. Hinter uns die wolkenverhangene Schlucht, vor uns eine Hochebene mit grünen, sonnenbeschienenen Wiesen, an deren Rand sich beeindruckende Felsformationen erheben. Wir richten uns hier bei einem Bivaco ein und treffen dort auf einige weitere Wanderer, mit denen wir Geschichten, Erfahrungen und am Lagerfeuer sogar unser Essen teilen, dafür helfen sie uns reichlich beim Beschaffen von Wasser und Feuerholz, welches in einem gut einstündigen Marsch von unterhalb der Baumgrenze heraufgeholt werden muss. Am nächsten Tag steigen wir in der Morgensonne in das Tal ab, das wir nur durch die Überquerung des hinter uns liegenden Passes erreichen konnten. Unten angekommen folgen wir einem Bergfluss, der hauptsächlich aus einem breiten Steinbett besteht und sich sonst nur selten zeigt. Am Abend erreichen wir unser Ziel, ein italienisches Pfadfinderlager. Wir müssen schlimm aussehen, denn die Pfadfinder ängstigen sich etwas vor uns und wir bekommen einen Platz ganz am Rande des Lagers zugewiesen. Während die einen auf dem Flussbett über einem Freudenfeuer Reis kochen, waschen die anderen im eiskalten, aber erfrischenden Gebirgsbach den Schweiß und Dreck der vergangenen Tage ab. Noch lange sitzen wir am Lagerfeuer, genießen das warme Essen und singen Fahrtenlieder. Doch auch guter Schlaf ist ratsam in dieser Nacht, der nächste Tag sollte ausdauernde Knochen und einen wachen Geist erfordern. Wir setzen unseren Marsch am Fluss entlang fort, während vor uns in weiter Ferne das Tagesziel winkt. Am Hang des vor uns aufragenden Berges können wir hoch oben den Blick auf eine kleine Hütte unterhalb des Gipfels erkennen. Am Fuße jenen Berges angekommen, erwartet uns eine böse Überraschung. Unser Weg ist gesperrt, denn ein Sturm hat eine Schneise in den Wald am Hang geschlagen, unser Weg soll demnach von Baumstämmen versperrt sein. Uns bleibt jedoch keine andere Möglichkeit. Mit einer gehörigen Schippe Abenteuerlust, aber doch auf alles gefasst, machen wir uns an den Aufstieg. Schon bald versperrt uns ein endlos wirkendes Feld von umgeworfenen Baumstämmen den Weg. Noch voller Kraft machen wir uns an die Durchquerung. Über den einen Baumstamm muss geklettert werden, bei dem nächsten geht’s nur unten drunter durch – es dauert einige Zeit, bis wir das vermeintliche Ende der Verwüstung erreicht haben. Doch wir sind noch ein gutes Stück von der Hütte entfernt, auch dämmert es langsam, das Alpenglühen ist Vorbote der herannahenden Dunkelheit. Ein beschwerlicher Marsch beginnt. Immer wieder versperren uns Bäume am Hang den Weg, müssen mühsam umgangen oder überstiegen werden. Nach den anstrengenden Klettereien hat uns die Kraft schon längst verlassen, nur noch der Wille ans Ziel zu gelangen und der Hunger auf ein gekochtes Mahl trägt unsere Füße im Halbdunkel weiter den Berg hinauf. So manch einer muss seine Grenzen überschreiten und unbedingter Teamgeist ist gefragt um alle wohlbehalten mitzunehmen. Die Sonne ist schon längst untergegangen, als von Vorne der freudige Ruf „Wasser!“ zu hören ist. Erleichterung macht sich breit und einige Schritte weiter ragt uns schon der Giebel der Hütte entgegen. Völlig erschöpft lassen wir uns vor der Hütte nieder und essen unsere Nudeln. Dieser Tag hatte es wirklich in sich. Den nächsten Tag erklären wir zum wohlverdienten Pausentag und bei einem tollen Alpenpanorama hoch über dem Tal vertreiben wir uns die Zeit mit Ausrüstungspflege, Musizieren oder Italienischunterricht. Abends teilen wir uns die Hütte mit italienischen Höhlenforschern. Auf dem Lagerfeuer werden am Abend Pfannkuchen gezaubert und eine Singerunde schließt den Tag. Am nächsten Morgen überschreiten wir den letzten Pass und beginnen den Abstieg, der uns für die nächsten drei Tage an Gamsherden und beschaulichen italienischen Bergdörfern mit netten, aufgeschlossenen Bewohnern vorbeiführt. An einem Abend lernen wir ein altes italienisches Paar kennen, bei dem wir eine Nacht auf der Terrasse schlafen dürfen. Die Verständigung läuft zwar nur über Sprachfetzen in Deutsch, Italienisch und Französisch, doch wir verbringen einen netten Abend miteinander. Am Ziel in Longarone angekommen steigen wir in den Zug nach Conegliano, wo wir uns eine Pizza nicht entgehen lassen und am Abend den Nachtzug wieder nach Stuttgart nehmen.
Diese durch und durch gelungene Großfahrt war ohne Zweifel der Höhepunkt dieses Pfadfinderjahres. Nicht nur die wunderschöne Landschaft, auch die Gemeinschaft war ein Erlebnis, an das wir uns noch lange erinnern werden. Nur durch einen besonderen Zusammenhalt ist es uns möglich gewesen, scheinbar unüberwindbare Hindernisse zu meistern und ein phänomenales Abenteuer zu erleben. Doch das Fernweh lockt schon wieder…
Thorben